Ein guter Mensch (2018)

Originaltitel: Şahsiyet
Regie: Onur Saylak
Drehbuch: Hakan Günday
Kamera:  Feza Çaldıran
Musik: Sertaç Özgümüş, Güntaç Özdemir
Laufzeit: ca. 800 Minuten (12 Episoden)
Darsteller: Haluk Bilginer, Cansu Dere, Şebnem Bozoklu, Recep Usta, Necip Memili, Metin Akdülger, Fırat Topkorur
Genre: Drama, Thriller, Krimi
Produktionsland: Türkei
FSK: ab 16 Jahre

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Der ehemalige Gerichtsangestellte Agâh Beyoğlu lebt zurückgezogen in Istanbul, als er die Diagnose Alzheimer erhält. Bevor er alles vergisst, will er allerdings noch schnell ein altes Unrecht rächen, denn vor vielen Jahren wurde in seinem Heimatort ein schreckliches Verbrechen vertuscht. Agâh setzt nun alles daran, sämtliche Schuldigen aus dem Verkehr zu ziehen. Kommissarin Nevra, die denn Fall übernimmt, sieht sich plötzlich mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert.

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Es gibt Serien, die einen beeindrucken. Und es gibt welche, die einen noch berühren. „Ein guter Mensch“ gehört eindeutig zu beiden Kategorien. Schon ab der ersten Folge zieht einen die Handlung komplett in den Bann und erfüllt bis zum Ende der Staffel durchgehend die hohen Erwartungen, die man in sie setzt. Diese türkische Serie braucht keinen Vergleich mit Hollywood-Produktionen zu scheuen. Ganz im Gegenteil, manch eine Serie aus Übersee könnte sich eine Scheibe davon abschneiden, was Dramatik, außergewöhnliche Inszenierungsweise und Schauspielerei angeht. „Ein guter Mensch“ bewegt sich auf einem sehr hohen Niveau, was diese Dinge angeht und kann in jeder Hinsicht überzeugen. Regisseur Onur Saylak muss ein großer Filmfan sein, wenn man seine Arbeit betrachtet. In vielen Einstellungen erinnert die farbenfrohe Ausleuchtung der Sets an die besten Werke des italienischen Kultregisseurs Dario Argento. Diese Szenen sind sehr beeindruckend und ästhetisch einfach schön anzusehen. „Ein guter Mensch“ macht aufgrund seiner Inszenierung, der beeindruckenden Schauspieler und dem grandiosen Score der beiden Komponisten Sertaç Özgümüş und Güntaç Özdemir unheimlichen Spaß. Die Musik, die teilweise an die Synthesizer-Scores der 1980er-Jahre oder beispielsweise „Stranger Things“ erinnert, untermalt die Handlung auf perfekte Weise.

Neben Regie, Plot und Musik tragen zudem in hohem Maße die Leistungen der Schauspieler zu diesem ungewöhnlichen Seriengenuss bei. Allen voran Haluk Bilgener, der die „Trotteligkeit“ eines Alzheimer-Kranken, den Charme eines sympathischen älteren Mannes und die Kaltblütigkeit eines Killers hervorragend verkörpert. Nicht umsonst erhielt er für diese Rolle den International Emmy Award. Bilginer zeigt, wie wandlungsfähig er in seinen Darstellungen sein kann und vermittelt dennoch durchgehend Sympathie, egal ob er den psychopathischen Mörder oder den „armen, alten Mann“ verkörpert. An seiner Seite kann auch Cansu Dere in ihrer Rolle als Ermittlerin ohne Einschränkungen überzeugen. Ihre Mischung aus verunsicherter und tougher Frau nimmt man ihr in jeder Filmminute ab. Sie stellt auch hervorragend die Gratwanderung zwischen teilweise frauenverachtender, türkischer Männerwelt, die antiquiert wirkt, und europäisch beeinflusster „Modernisierung“ des Frauenbildes dar und zeigt damit eine Türkei, die unserem eigenen Land nicht unähnlich ist. Aber auch  Metin Akdülger als Journalist und Necip Memili als Kommissar hinterlassen einen bleibenden Eindruck beim Zuschauer.
Die Serie spricht viele Probleme und/oder Tabuthemen an, wie beispielsweise Selbstjustiz, Recht und Gerechtigkeit, Liebe im Alter, das Älterwerden an sich, Generationskonflikte und Hinterwäldler-Verschwörungen. Die Handlung wirkt aber dennoch niemals überfrachtet.

„Ein guter Mensch“ ist nicht nur Krimi und Thriller, sondern auch eine einfühlsame Studie über einen kranken, einsamen Mann, der auf der Suche nach Liebe und Gerechtigkeit ist und gegen eine Krankheit ankämpft. Rache, bevor man vergisst, was man eigentlich rächen will. Diese Symbiose zwischen hartem, blutigem Thriller und ruhiger Suche nach Erfüllung im Alter ist so grandios, dass man sich noch lange damit beschäftigt. Gerne hätte man Agâh Beyoğlu noch länger bei seinen Taten begleitet, aber auch Nevra und den Kommissar. Drehbuchautor Hakan Günday hat Protagonisten erschaffen, die man nicht mehr so schnell vergisst und denen man liebend gerne noch einmal begegnen möchte. Und auch wenn die vorliegende erste Staffel ein zufriedenstellendes Ende hat, wenngleich es sich nicht wirklich um ein Happy End handelt, so hofft man, eines Tages eine zweite Staffel dieser unvergleichlichen Serie zu sehen. „Ein guter Mensch“ ist spannend, emotional, lustig, traurig und melancholisch. Selten bekommt man solch eine Mischung zu sehen, weswegen diese Serie für mich zu einem absoluten Highlight der letzten Jahre zählt.
Agâh Beyoğlu sagt in einer Szene, kurz nachdem er die Diagnose „Alzheimer“ erfahren hat: „Für immer vergessen können. Sogar vergessen, dass man vergisst. Ich werde alles vergessen und mich an nichts mehr erinnern.“
Das wird dem Zuschauer bei „Ein guter Mensch“ definitiv nicht passieren.

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Fazit: Eine unvergessliche Reise. Spannend, emotional, lustig, traurig und melancholisch. Muss man gesehen haben.

©2020 Wolfgang Brunner

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