Originaltitel: Titane
Regie: Julia Ducournau
Drehbuch: Julia Ducournau
Kamera: Ruben Impens
Musik: Jim Williams
Laufzeit: 108 Min.
Darsteller: Vincent Lindon, Agathe Rouselle, Laïs Salameh, Garance Marillier, Dominique Frot, Myriem Akheddiou, Mehdi Rahim-Silvioli
Genre: Horror, Thriller, Drama
Produktionsland: Frankreich, Belgien
FSK: ab 16 Jahre
*
Das Mädchen Alexia bekommt nach einem schweren Autounfall Titanplatten in den Kopf implantiert. Im Verlaufe der folgenden Jahre entwickelt sie ein immer stärker werdende Beziehung zu Fahrzeugen anstatt zu Menschen. Als sie einen aufdringlichen Mann tötet, flüchtet sie und nimmt die Identität eines vor Jahren verschwundenen Jungen an. Als Alexia den Vater des Jungen kennenlernt, nimmt sie dessen Identität an und eine wundersame, unheimliche Verwandlung nimmt ihren Lauf.
*
Es gibt immer wieder Filme, bei denen man eine gewisse Erwartungshaltung hat, nachdem man den Trailer gesehen hat, sich aber irgendwie nicht rantraut, weil man denkt, man könnte letztendlich dann doch enttäuscht werden. „Titane“ war für mich einer derjenigen Filme, die mich dann aber vollkommen sprachlos zurückgelassen haben, nachdem ich ihn mir angesehen hatte.
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, denn Regisseurin Julia Ducournau hat keine zehn Minuten gebraucht, um mich vollkommen mit ihren düsteren, fast schon traumartigen Bildern gefangen zu nehmen und bis zum Finale nicht mehr loszulassen. „Titane“ gehört wahrscheinlich in die Kategorie „Entweder man mag ihn und kann was damit anfangen, oder eben nicht.“ Ich für meinen Teil fühlte ich mich an eine Zeit erinnert, in der mich Filme von David Cronenberg oder in neuerer Zeit auch Gaspar Noé mit offenem Mund vor der Kinoleinwand oder dem Fernsehbildschirm zurückgelassen haben. Genau so erging es mir bei „Titane“ auch.
Ein Muss, um diesem innovativen und vollkommen von der Norm abweichenden Film etwas abgewinnen zu können, ist die Fähigkeit, sich zuerst einmal darauf einzulassen. Wer bestimmte Passagen als unglaubwürdig, verrückt und schwachsinnig abtut, kann gleich wieder aussteigen und braucht den Rest dieser wilden, cineastischen Achterbahnfahrt nicht mitzumachen: er wird weder Gefallen noch Spaß daran haben. Wer allerdings sitzenbleibt, bekommt ein Meisterwerk zu sehen, dass sich an Genreklassikern des Body-Horror-Films in keiner Weise verstecken braucht. Ganz im Gegenteil, Julia Ducournau erschafft mit ihrem Film eine gewagte Gratwanderung zwischen Fantasy, Horror und Drama. „Titane“ handelt von Traumabewältigung, Persönlichkeitsstörungen und -entwicklungen, von der Suche nach Liebe und Sicherheit, von der Bedeutungslosigkeit der gesellschaftlich festgesetzten Geschlechterrollen. Es ist so vieles, was zwischen den Bildern, Dialogen und Gesichtsausdrücken der Schauspieler ausgedrückt wird und seinen Weg in die Gedanken des Zuschauers findet. „Titane“ ist Kino zum Fühlen, Denken und Erleben.
Von der Idee, der Konzeption und Inszenierung einmal abgesehen, bietet „Titane“ aber noch einiges andere: Da wären beispielsweise Agathe Rouselle und Vincent Lindon, die beide eine oscarreife Leistung abliefern und zu der wahnsinnig intensiven Atmosphäre des Films in hohem Maße beitragen. Rouselles Verwandlung von einer Frau zu einem Mann jagt mir noch immer Gänsehaut über den Rücken und Lindons intensives Schauspiel ist einfach nur der Hammer. Ich hätte den beiden gut und gerne noch einmal zwei Stunden zusehen können. Einfach spitzenmäßig.
Und sozusagen als I-Tüpfelchen kommt dann noch der Score von Jim Williams und die im Film verwendeten Songs dazu. Um ein Beispiel zu nennen, bei dem mir alleine beim Gedanken daran Gänsehaut über den Körper läuft: Die Szene, in der Rouselle und Lindon als Vater und Sohn zum Song „Light House“ von Future Islands tanzen, ist eine der besten und emotionalsten im Film. Besser hätte man es nicht machen können. Ich liebe diese Szene!
*
Fazit: Ein Film, der nachhaltig beeindruckt. Wer sich darauf einlassen kann, erlebt ein Meisterwerk.
©2022 Wolfgang Brunner