Titane (2021)

Originaltitel: Titane
Regie: Julia Ducournau
Drehbuch: Julia Ducournau
Kamera: Ruben Impens
Musik: Jim Williams
Laufzeit: 108 Min.
Darsteller: Vincent Lindon, Agathe Rouselle, Laïs Salameh, Garance Marillier, Dominique Frot, Myriem Akheddiou, Mehdi Rahim-Silvioli
Genre: Horror, Thriller, Drama
Produktionsland: Frankreich, Belgien
FSK: ab 16 Jahre

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Das Mädchen Alexia bekommt nach einem schweren Autounfall Titanplatten in den Kopf implantiert. Im Verlaufe der folgenden Jahre entwickelt sie ein immer stärker werdende Beziehung zu Fahrzeugen anstatt zu Menschen. Als sie einen aufdringlichen Mann tötet, flüchtet sie und nimmt die Identität eines vor Jahren verschwundenen Jungen an. Als Alexia den Vater des Jungen kennenlernt, nimmt sie dessen Identität an und eine wundersame, unheimliche Verwandlung nimmt ihren Lauf.

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Es gibt immer wieder Filme, bei denen man eine gewisse Erwartungshaltung hat, nachdem man den Trailer gesehen hat, sich aber irgendwie nicht rantraut, weil man denkt, man könnte letztendlich dann doch enttäuscht werden. „Titane“ war für mich einer derjenigen Filme, die mich dann aber vollkommen sprachlos zurückgelassen haben, nachdem ich ihn mir angesehen hatte.
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, denn Regisseurin Julia Ducournau hat keine zehn Minuten gebraucht, um mich vollkommen mit ihren düsteren, fast schon traumartigen Bildern gefangen zu nehmen und bis zum Finale nicht mehr loszulassen. „Titane“ gehört wahrscheinlich in die Kategorie „Entweder man mag ihn und kann was damit anfangen, oder eben nicht.“ Ich für meinen Teil fühlte ich mich an eine Zeit erinnert, in der mich Filme von David Cronenberg oder in neuerer Zeit auch Gaspar Noé mit offenem Mund vor der Kinoleinwand oder dem Fernsehbildschirm zurückgelassen haben. Genau so erging es mir bei „Titane“ auch.

Ein Muss, um diesem innovativen und vollkommen von der Norm abweichenden Film etwas abgewinnen zu können, ist die Fähigkeit, sich zuerst einmal darauf einzulassen. Wer bestimmte Passagen als unglaubwürdig, verrückt und schwachsinnig abtut, kann gleich wieder aussteigen und braucht den Rest dieser wilden, cineastischen Achterbahnfahrt nicht mitzumachen: er wird weder Gefallen noch Spaß daran haben. Wer allerdings sitzenbleibt, bekommt ein Meisterwerk zu sehen, dass sich an Genreklassikern des Body-Horror-Films in keiner Weise verstecken braucht. Ganz im Gegenteil, Julia Ducournau erschafft mit ihrem Film eine gewagte Gratwanderung zwischen Fantasy, Horror und Drama. „Titane“ handelt von Traumabewältigung, Persönlichkeitsstörungen und -entwicklungen, von der Suche nach Liebe und Sicherheit, von der Bedeutungslosigkeit der gesellschaftlich festgesetzten Geschlechterrollen. Es ist so vieles, was zwischen den Bildern, Dialogen und Gesichtsausdrücken der Schauspieler ausgedrückt wird und seinen Weg in die Gedanken des Zuschauers findet. „Titane“ ist Kino zum Fühlen, Denken und Erleben.

Von der Idee, der Konzeption und Inszenierung einmal abgesehen, bietet „Titane“ aber noch einiges andere: Da wären beispielsweise Agathe Rouselle und Vincent Lindon, die beide eine oscarreife Leistung abliefern und zu der wahnsinnig intensiven Atmosphäre des Films in hohem Maße beitragen. Rouselles Verwandlung von einer Frau zu einem Mann jagt mir noch immer Gänsehaut über den Rücken und Lindons intensives Schauspiel ist einfach nur der Hammer. Ich hätte den beiden gut und gerne noch einmal zwei Stunden zusehen können. Einfach spitzenmäßig.
Und sozusagen als I-Tüpfelchen kommt dann noch der Score von Jim Williams und die im Film verwendeten Songs dazu. Um ein Beispiel zu nennen, bei dem mir alleine beim Gedanken daran Gänsehaut über den Körper läuft: Die Szene, in der Rouselle und Lindon als Vater und Sohn zum Song „Light House“ von Future Islands tanzen, ist eine der besten und emotionalsten im Film. Besser hätte man es nicht machen können. Ich liebe diese Szene!

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Fazit: Ein Film, der nachhaltig beeindruckt. Wer sich darauf einlassen kann, erlebt ein Meisterwerk.

©2022 Wolfgang Brunner

Tommy B. (2021)

Originaltitel: Tommy B. – Ein Mann schlägt sich durch
Regie: Enrico Corsano
Drehbuch: Enrico Corsano
Kamera: Enrico Corsano
Musik: –
Laufzeit: 72 Min.
Darsteller: Thomas Betzler, Anke Betzler, Klaus Schulze u.v.m.
Genre: Dokumentarfilm
Produktionsland: Deutschland
FSK: –

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Mit viel Humor erzählt Thomas „Tommy“ Betzler seine eigene Lebensgeschichte und streift dabei die Wege unzähliger Stars der Musikbranche aus den letzten 50 Jahren.

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Wer sich ein wenig näher mit der EM-Szene (Elektronische Musik) beschäftigt, kommt an Tommy Betzler gar nicht vorbei. In zu vielen Projekten war er involviert, als dass man ihn nicht kennen könnte. So war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, wann sich jemand dem überaus interessanten und spannenden Leben dieses Mannes in Form eines Dokumentarfilmes widmen würde. Durch Zufall stieß Enrico Corsano auf Betzler und wollte ihm eigentlich nur ein paar Fragen über das Bandprojekt „Floyd Reloaded“ stellen. Glücklicherweise ist aus dieser Begegnung dann nicht nur ein minutenlanges Statement herausgekommen, sondern „Tommy B. – Ein Mann schlägt sich durch“.
Es ist unglaublich, mit welcher Hingabe Betzler über sein Leben erzählt. Da spielen geschäftliche und private Komponenten eine Rolle, die ein über alle Maßen sympathisches Gesamtbild über den Musiker und Caterer ergeben, dass man ihm gut und gerne drei Stunden (oder noch länger) zuhören könnte. Enrico Corsano ist ein Dokumentarfilm gelungen, der nicht nur professionell und überaus menschlich daherkommt, sondern auch so kurzweilig ist, dass man dabei die Zeit vergisst. Man fühlt sich, als säße man Betzler direkt gegenüber und lausche seinen Geschichten, könnte sogar hin und wieder eine Frage stellen, bis man registriert, dass man „nur“ einen Film sieht. „Tommy B.“ ist aus meiner Sicht eine perfekte Dokumentation über einen einzelnen Menschen, die letztendlich alles beinhaltet: Erfolg und Misserfolg, geschäftliche und private Schicksale, Mut, Lebenswille und vor allem eines: Humor.

„Tommy B. – Ein Mann schlägt sich durch“ hat eine lange Geschichte, die sich hinter den Kulissen abspielte: Ein Motorradunfall des Regisseurs, verbunden mit etlichen Operationen, verzögerte das Projekt, das bereits im Jahr 2014 seinen Anfang nahm, immer wieder. Doch das Warten hat sich mehr als gelohnt und Enrico Corsanos Dokumentarfilm wurde 2021 von der Deutschen Film- und Medienbewertung (kurz FBW) verdientermaßen mit dem Prädikat „Besonders wertvoll“ ausgezeichnet und wurde infolge auch für den Hessischen Filmpreis vorgeschlagen. Es stecken also mehrere Jahre Arbeit hinter diesem ausgezeichneten Filmprojekt. Man spürt in jeder Filmminute, mit welcher Akribie und Hingabe der Regisseur an diesen Film herangegangen ist. Es macht riesigen Spaß, dem Musiker, Caterer und Menschen Thomas „Tommy“ Betzler zuzuhören, wie er Episoden aus seiner Vergangenheit zum Besten gibt. Und durch die professionelle Machart des Films vergeht die Zeit wie Fluge.

„Tommy B. – Ein Mann schlägt sich durch“ ist eine Zeitreise durch viele Jahrzehnte Musikgeschichte. Betzler erzählt Anekdoten über seine Begegnungen mit Weltstars, schildert aber zwischendurch auch immer wieder von privaten Ereignissen, sodass man dem Menschen Betzler sehr nahe kommt. Durch die tollen Schnitte, Übergänge und visuellen Einschübe, die von Regisseur Corsano angefertigt wurden, wird man auf perfekte und äußerst kurzweilige Weise unterhalten, kurz, man bekommt hier einen Dokumentarfilm zu sehen, wie er besser nicht gemacht werden könnte.
Und wenn sich dann am Ende der Kreis wieder schließt und Betzler dem Catering den Rücken kehrt, um wieder zurück ins Musikgeschäft zu gehen, dann vermittelt der Film noch etwas ganz Großes, weil er beweist, dass man niemals im Leben seine Träume (und Berufung) aufgeben soll und darf. Für mich gehört „Tommy B. – Ein Mann schlägt sich durch“ zu einer der besten Dokumentationen über einen zeitgenössischen Künstler und Menschen.

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Fazit: Zu Recht mit dem Prädikat „Besonders wertvoll“ ausgezeichnet. Ein beeindruckendes Porträt eines Künstlers und Menschen.

©2021 Wolfgang Brunner

Die Erlösung der Fanny Lye (2019)

Originaltitel: Fanny Lye Deliver’d
Regie: Thomas Clay
Drehbuch: Thomas Clay
Kamera:  Giorgios Arvanitis
Musik: Thomas Clay
Laufzeit: 109 Min.
Darsteller: Maxine Peake, Charles Dance, Freddie Fox, Tanya Reynolds, Peter MacDonald, Zak Adams, Perry Fitzpatrick, Kenneth Collard
Genre: Historie, Drama
Produktionsland: Großbritannien
FSK: ab 16 Jahre

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Wir schreiben das Jahr 1657. Auf einem abgelegenen Bauernhof in der Grafschaft Shropshire leben Fanny Lye, ihr Ehemann John und ihr Sohn Arthur. Sie führen ein Leben in puritanischer Strenge, das abrupt aus den Fugen gerät, als eines Morgens der charismatische Thomas und seine junge, sinnliche Begleiterin Rebecca Zuflucht in der Scheune des Ehepaars suchen.
Ab diesem Moment wird die Welt von Fanny Lye vollkommen aus der Bahn geworfen, bis sich eine blutige Spirale unweigerlich nach oben schraubt und in einem schrecklichen Finale endet …

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Das Cover suggeriert Trash und Horror und spricht damit eine vollkommen falsche Zielgruppe an. Da würde es mich nicht wundern, wenn es wieder 1-Sterne-Rezensionen hagelt, weil der Film ach so langweilig und nicht spannend ist. „Die Erlösung der Fanny Lye“ ist nämlich weder Trash noch Horror, sondern vielmehr ein niveauvolles Arthaus-Kunstwerk, das fast schon einem Kammerspiel gleicht. Auf äußerst beeindruckende Weise inszenierte Regisseur Thomas Clay einen mutigen Film, der das puritanische Leben und Denken jener Zeit genial einfängt. Zu der wirklich grandiosen Inszenierung kommt ein tolles Ensemble an Schauspielern hinzu, allen voran die beiden Hauptdarsteller Maxine Peak und Charles Dance. Die beiden agieren so hervorragend, dass man manchmal alles um sich herum vergisst, während man den beiden zusieht. Wunderschöne, stimmungsvolle Naturaufnahmen wechseln sich mit teils krassen Szenen ab, die unter die Haut gehen und einem auch schon manchmal in ihrer Direktheit unangenehm werden, wenn sie unter die Gürtellinie gehen. Doch am Ende des Films fügen sich auch diese Momente zu einem Gesamtbild zusammen, das man nicht mehr so schnell vergisst. Clay nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er seine Geschichte erzählt.

„Die Erlösung der Fanny Lye“ zeigt ein Aufbäumen, eine Flucht aus einem Leben im alten England kurz vor der Jahrhundertwende, in dem Gefühle und feministisches Selbstbewusstsein nicht gerne gesehen werden. Und mittendrin in dieser prüden Gesellschaft findet die Protagonistin einen Weg, der sie zu einer starken Frau macht, die um ihr eigenes Ich kämpft. Maxine Peak verkörpert diese Frau perfekt und kann in jeder einzelnen Einstellung überzeugen. Vor allem im Finale lässt ihre Ausdrucksstärke das Publikum den Atem anhalten. Als Gegenstück wirkt aber auch Charles Dance vollkommen authentisch. Das Miteinander dieser beiden Personen schwebt unentwegt über dem Geschehen und zieht sich bis zum Ende hin konsequent durch den ganzen Film. Man hätte gut und gerne weitere zwei Stunden dabei zusehen können, wie sich Fanny Lye immer mehr zu einer toughen Frau entwickelt und ihren eigenen Weg geht. Tanya Reynolds und Peter MacDonald als Paar auf der Flucht fügen sich in dieses exzellente Schauspieler-Ensemble ein und machen „Die Erlösung der Fanny Lye“ zu einem unvergesslichen Erlebnis.

Ein Punkt muss ebenfalls erwähnt werden: nämlich der emotionale und fast schon epische Score, der von Regisseur Thomas Clay selbst stammt. Sein Klangteppich untermalt das Gezeigte auf geniale Weise und vermittelt die jeweilige Stimmung auf den Punkt genau. Vor allem in der finalen Szene kann die Musik auftrumpfen und unterstreicht die gezeigten Bilder so intensiv, dass man nur noch gebannt auf den Bildschirm starren und die Szene in all ihren Aspekten genießen kann. Der Film hinterlässt den Zuschauer geschockt, verstört und nachdenklich, aber auch hoffnungsvoll. Es ist ein Happy End, ohne dass es ein Happy End ist. Genau solche Filme haben bei mir immer einen ganz besonderen Stellenwert, weil sie sich nicht um die Konventionen im Filmgeschäft kümmern, sondern einfach nur die Geschichte erzählen, die sie auch erzählen wollen. „Die Erlösung der Fanny Lye“ war für mich eine ganz große Überraschung, mit der ich niemals gerechnet habe. Vor allem der künstlerische Aspekt und der Mut, der in diesem Film steckt, verdient weitaus mehr Aufmerksamkeit, als er letztendlich bekommen wird, weil viele den Film in seiner beeindruckenden Konsequenz gar nicht verstehen werden.
Wer anspruchsvolle Filme mag, kommt an „Die Erlösung der Fanny Lye“ nicht vorbei.

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Fazit: Anspruchsvolles, unter die Haut gehendes Drama mit einer tollen Besetzung und einem wahnsinnig guten Score.

©2021 Wolfgang Brunner

Breaking Surface – Tödliche Tiefe (2020)

Originaltitel: Breaking Surface
Regie: Joachim Hedén
Drehbuch: Joachim Hedén
Kamera:  Anna Patarakina, Eric Börjeson (Unterwasseraufnahmen)
Musik: Patrick Kirst
Laufzeit: 80 Minuten
Darsteller: Moa Gammel, Madeleine Martin, Trine Wiggen
Genre: Thriller, Drama, Action
Produktionsland: USA
FSK: ab 12 Jahre

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Ida besucht ihre Mutter und Schwester im heimatlichen Norwegen. Die beiden Schwestern unternehmen einen Tauchgang in der eisigen Kälte. Die Schönheit und Stille der Unterwasserwelt lassen die Familienzwistigkeiten für einen Moment vergessen, bis aus dem Nichts ein herabstürzender Felsen Idas Schwester erfasst und auf dem Meeresboden unter sich begräbt. Ida beginnt mit einer verzweifelten Rettungsaktion und ein nervenzerfetzender Wettlauf gegen die schwindenden Sauerstoffreserven zeichnet sich dabei immer mehr ab.

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Man denkt natürlich erst einmal aufgrund des Plakats und der Thematik, dass man einen Film zu sehen bekommt, der nichts Neues bringt. Im Prinzip ist das auch so doch jetzt kommt das große Aber: „Breaking Surface“ zeigt doch etwas mehr, als der Zuschauer von Filmen wie beispielsweise „47 Meters Down“ kennt. „Breaking Surface“ zeigt mehr Tiefe bei den Charakteren und entwickelt dadurch eine besondere Richtung, wie man sie von solcherart Filmen bislang nicht kannte. Sicherlich spielt die Familiengeschichte nicht die Hauptrolle, denn dazu ist die Szenerie unter Wasser viel zu spannend. Aber dennoch bleibt dieser Handlungsstrang im Gedächtnis des Zuschauers haften, wenn er um das Leben der beiden Taucherinnen bangt und mitfiebert.

Es steckt vieles zwischen den Bildern und man kann so einiges in das Verhalten der beiden Schwestern hineininterpretieren. Die Familiensituation, die am Anfang des Filmes eine Rolle spielt, zieht sich letztendlich durch die ganze Handlung, wenngleich man es auf den ersten Blick nicht wirklich bewusst wahrnimmt. Denn es kommt eine zu hohe Spannung auf, weswegen man sich immer mehr auf die Rettungsaktionen und die verzweifelten Versuche, Hilfe zu holen, konzentriert, als dass man sich immer wieder in Erinnerung ruft, wie die beiden Schwestern zueinander stehen und sich die Familienverhältnisse bei ihnen auswirken. „Breaking Surface“ dreht die Spannungsschraube konstant in die Höhe, so dass man atemlos in den Bann gezogen wird.

Ein großer Pluspunkt gegenüber den Hollywood-Konkurrenten mit gleicher Thematik ist bei „Breaking Surface“ der Ort, an dem das Ganze spielt. Denn sobald man sich nicht zusammen mit den Protagonisten unter Wasser befindet, wird man mit beeindruckenden Landschaftsaufnahmen belohnt, die das raue Norwegen zeigen und Melancholie in einem wecken. Das hebt diesen film definitiv von gleichartigen Genrebeiträgen ab und bleibt auch dauerhaft in Erinnerung. Aber auch die Unterwasseraufnahmen sind hervorragend gelungen, so dass der Film insgesamt einen bleibenden Eindruck beim Zuschauer hinterlässt. Erwähnenswert ist noch, dass es sich bei der Gefahr, in denen sich die Protagonisten befinden, schlichtweg um einen dummen Zufall handelt, der geschieht, und nicht um einen Hai oder gar irren Killer. Das Szenario ist also durchaus real und daher umso erschreckender. Ich fühlte mich bestens unterhalten.

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Fazit: Extrem spannender Überlebenskampf vor einer beeindruckenden Naturkulisse.

©2020 Wolfgang Brunner

Suspiria (2018)

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Originaltitel: Suspiria
Regie: Luca Guadagnino
Drehbuch: David Kajganich
Kamera: Sayombhu Mukdeeprom
Musik: Thom Yorke
Laufzeit: 152 Minuten
Darsteller: Dakota Johnson, Tilda Swinton, Mia Goth, Angela Winkler, Ingrid Caven, Chloë Grace Moretz, Elena Fokina, Sylvie Testud, Jessica Harper
Genre: Horror
Produktionsland: Italien, USA
FSK: ab 16 Jahre

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Berlin, 1977: Die  Tänzerin Susie kommt  aus Ohio und kann es kaum erwarten,  an einer namhaften Tanzakademie in West-Berlin angenommen zu werden. Doch schon bald wird ihr klar, dass am Institut unter der Leitung von Madame Blanc  etwas Böses und Übernatürliches sein Unwesen treibt. Als die Leiche einer der Tänzerinnen gefunden wird, beginnt für Susie ein wahrer Höllentrip.

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Sobald es um das Remake eines Klassikers geht, wie im vorliegenden Fall um Dario Argentos Kultfilm „Suspiria“, scheiden sich die Geister der Fangemeinde. Die einen bestehen darauf, dass man solch einen Kultfilm einzigartig lassen sollte, weil man ihn ohnehin unmöglich toppen kann, und die anderen geben einem Remake respektive einer Neuinterpretation eine Chance. „Suspiria“ aus dem Jahr 2018 sollte man unbedingt eine Chance geben, denn was Regissseur Guadagnino hier bietet, ist unglaublich.
Zwar richtet sich die Haupthandlung noch nach dem Originaldrehbuch von Argento, aber Luca Guadagnino legt im Grunde genommen eine völlig neue Geschichte vor. Hier handelt es sich eindeutig um kein Remake, sondern um eine vollkommene Neuinterpretation des Stoffes. Der grundsätzliche Plot ist sicherlich noch vorhanden, sprich es spielt sich alles in einer Tanzschule ab, aber der Handlungsort ist zum Beispiel nicht länger München sondern Berlin. Soweit zu den erst einmal nicht besonders gravierenden Änderungen, die der Regisseur vorgenommen hat.

Ich kann meine Begeisterung noch immer nicht unterdrücken, so überrumpelt hat mich diese innovative und visionäre Neuinterpretation von „Suspiria“. Mir fehlen die Worte, denn ich kann gar nicht beschreiben, was dieser Film alles in mir ausgelöst hat: Faszination, Schrecken und eine unglaublich melancholische Traurigkeit am Ende. „Suspiria“ ist ein Wechselbad der Gefühle und eine Inszenierung, die hypnotischer nicht sein könnte. Regisseur  Luca Guadagnino hat ein Meisterwerk geschaffen, das sich bei mir auf einen Knall in die Top Ten meiner All Time Favorites katapultiert hat. „Suspiria“ ist magisch, brutal, melancholisch, steckt voller mystischer Botschaften und einer unglaublichen Liebe zum Leben. Es ist wirklich meisterhaft, wie diese Atmosphäre in Szene gesetzt wurde und einem von der ersten Minute an bis zum Ende nicht mehr loslässt. Der Film hat genau genommen zwei Enden: Eines, das zutiefst verstört, und ein anderes, das einem die Tränen in die Augen treibt. Eigentlich bleibt nicht mehr viel von Argentos Klassiker übrig, denn der Regisseur geht einem vollkommen anderen Weg. Und das ist auch absolut gut so. Dennoch schafft er es, den Geist des alten Films in seine Interpretation hineinzuarbeiten. Ich habe wirklich keine Ahnung, wie er das gemacht hat, aber Fakt ist, dass mich dieser neue Film weitaus mehr beeindruckt hat als Argentos Original, aber dennoch der alten Version auf gewisse Art und Weise huldigt. Es ist wirklich faszinierend wie Regisseur Guadagnino das gemacht hat. Hinzu kommt bei dieser Neuinterpretation, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler absolut perfekt ausgewählt wurden, um diese mehr als geniale Atmosphäre einzufangen.

Ich könnte den Film sofort wieder ansehen, so begeistert und beeindruckt hat er mich. Vor allem lässt er  eine Unmenge an eigenen Interpretationen zu, die einen nachhaltig beschäftigen. Ähnlich wie bei Filmen von David Lynch, Peter Greenaway oder Lars von Trier begleitet einen der Film noch eine Weile nach Sichtung. „Suspiria“ ist die Art von Film, die ich die letzten Jahre oftmals im Kino vermisst habe. Außerordentlich künstlerisch, aber dennoch  spannend und auf gewisse Art und Weise tauglich für ein Massenpublikum, öffnet diese Art von Film ein ganz besonderes Fenster im Gehirn des Zuschauers. Die einen werden den Film einfach so hinnehmen, wie er ist, und die anderen werden unzählige Möglichkeiten hineininterpretieren. Das ist ganz großes Kino, das bewegt und beschäftigt. Ich wünschte mir, es gäbe mehr solcher genialen Filme. Ich bin gespannt, was Regisseur Guadagnino in naher Zukunft noch abliefern wird. „Suspiria“ bekommt definitiv die höchste Punktzahl von mir, die es gibt, und eigentlich noch einen Sonderpunkt extra für den umwerfenden Arthouse-Stil. In meinen Augen ein absoluter Kultfilm, der neue Maßstäbe im Genre setzt.

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Fazit: Beeindruckender Arthouse-Horror, der nachhaltig im Gedächtnis bleibt. Innovativ und emotional.

© 2019 Wolfgang Brunner

Fenster Blau (2016)

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Originaltitel: Fenster Blau
Regie: Sheri Hagen
Drehbuch: Zoe und Sheri Hagen
Kamera: Michael Tötter
Musik: Alexander Precht
Laufzeit: 82 Minuten
Darsteller: Emilio Sakraya, Kristin Alia Hunold, Dietrich Hollinderbäumer, Marko Dyrlich, Anne Zander, Hund Collie, Eyk Kauly
Genre: Drama, Literatur
Produktionsland: Deutschland
FSK: k.A.

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Mitten im eisigen Winter kommt Ljöscha auf der Insel Norderney an. Er ist auf der Suche nach der Wahrheit in seiner Vergangenheit. Ljöscha trifft seinen Großvater, der ihn aber abweist. Doch schließlich siegt die Neugier und er möchte wissen, was mit seiner Tochter ist. An einem anderen Ort verschanzen sich ein älterer Mann und ein junges Mädchen in einer Wohnung. Er ist der Vater des Mädchens, aber er liebt sie verbotenerweise. Beide Schicksale hängen zusammen und Ljöscha kämpft zusammen mit seinem Großvater gegen die Vergangenheit, die beide immer wieder einholt …

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Da sieht man sich einen Film an, geht mit keiner besonderen Erwartungshaltung heran und wird mit einer Wucht gepackt, die einen umhaut. Sheri Hagens zweiter Langfilm orientiert sich an dem prämierten Theaterstück „Muttermale Fenster Blau“ der Dramatikerin Sasha Marianna Salzmann. Sheri Hagen steht eigentlich vor der Kamera, beweist aber mit „Fenster Blau“ ein dermaßen  eindrucksvolles Gespür für Dramaturgie und künstlerische Inszenierung, dass es einem die Sprache verschlägt. Ich möchte den Film als Meisterwerk und Rückkehr des deutschen Autorenfilms bezeichnen, so sehr haben mich Geschichte, Bilder und Schauspielleistungen in den Bann gezogen. Der Film wirkt wie ein wahr gewordener Albtraum aus Ängsten und Depressionen, aber auch voller Sehnsüchte, Hoffnungen und Liebe. Es ist schlichtweg genial, wie Hagen diese Gratwanderung zusammen mit ihrer Crew meistert und einen hoffnungsvollen und zugleich verstörenden Film auf Zelluloid bannt.

„Fenster Blau“ ist ein Kammerspiel, das auf eine Weise inszeniert wurde, als hätte ein „deutscher Peter Greenaway“ die Hände im Spiel gehabt. Voller Botschaften (ob sinnvoll oder sinnfrei sei einfach mal dahingestellt), die sich durch den gesamten Film ziehen und permanent zum Nachdenken anregen, aber auch zu Wut, Hilflosigkeit und Trauer. Es ist grandios, wie die Schauspieler allesamt diese Woge an Emotionen durch die knapp eineinhalb Stunden transportieren und greifbar machen. Man möchte an einigen Stellen laut losschreien wie der Protagonist Ljöscha, an anderen würde man den hilflosen, zerrissenen Großvater am liebsten in den Arm nehmen oder sich von ihm in den Arm nehmen lassen. Das Gespann Emilio Sakraya (aktuell: „Heilstaetten“ und „4 Blocks“) und Dietrich Hollinderbäumer (zuletzt in „Angst – Der Feind in meinem Haus“ zu sehen) funktioniert hervorragend, ebenso wie das Agieren zwischen Kristin Alia Hunold („Dem Horizont so nah“) und Marko Dyrlich (unter anderem mit dabei in „Babylon Berlin“). Es ist alles so intensiv, so natürlich, so lebensecht. Trotz des überaus ernsten Themas spürt man die Begeisterung der Beteiligten in jeder Filmminute. Ich ziehe meinen Hut vor den Darstellern. Emilio Sakraya fährt so authentisch aus der Haut, dass man eine Gänsehaut bekommt. Dietrich Hollinderbäumer zeigt sich äußerlich roh und innerlich einfühlsam, das ist eine grandiose Leistung, die die beiden Schauspieler da abliefern. Kristin Alia Hunold spielt die kindlich wirkende und innerlich zerstörte Lena, im positiven Sinne, glänzend theatralisch, während Marko Dyrlich sichtlich unwohl seinen Charakter darstellt. Auch hier kann man nur sagen: imposant! Da können sich so manche „Stars“ eine Scheibe abschneiden.

Zu den schauspielerischen Glanzleistungen gesellen sich  aussagekräftige Bildkompositionen und ein grandioser Score, die den Film zu einem echten Erlebnis machen. Man möchte trotz der oftmals unangenehmen Situationen, die geschildert werden, den Schauplatz und die Charaktere nicht mehr verlassen, denn man fühlt sich wohl oder unwohl mit ihnen und kann ihre Emotionen in jeder Hinsicht nachvollziehen. Sheri Hagen hat aus meiner Sicht ein Meisterwerk erschaffen, das mich nachhaltig beeindruckt und noch lange beschäftigen wird. Sie hat Sasha Marianna Salzmanns Theaterstück eine Tiefe verliehen, die seinesgleichen sucht. Alles ist in schwarz-weiß gehalten, nur die Farbe Blau wird sichtbar. Wie in „Pleasantville“ spielt die Regisseurin dieses Stilmittel bis zum Ende konsequent aus, beeinflusst den Zuschauer bis hin zum Happy End, das letztendlich kein Happy End ist. Oder doch?
„Fenster Blau“ ist ein Film zum Nachdenken, aber auch zum Träumen, bei dem man sich auf sich selbst besinnen kann. „Fenster Blau“ ist ein Film für die große Leinwand, ein unvergessliches emotionales Erlebnis, schlichtweg ganz, ganz großes Kino. Wo sind all die Preise, die dieser Film, dessen Schauspieler und Crew, verdient hat?
Ich kann meine Begeisterung schwer zurückhalten, aber eigentlich will ich das auch gar nicht. 😉 Man muss diesen Film gesehen haben!

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Fazit: Ganz großes Kino aus Deutschland. Wunderbar inszeniert und mit beeindruckenden Schauspielerleistungen.

© 2018 Wolfgang Brunner

Boulevard (2016)

Originaltitel: Boulevard
Regie: Dito Montiel
Drehbuch: Douglas Soesbe
Kamera: Chung-hoon Chung
Musik: Jimmy Haun, David Wittman
Laufzeit: 88 Minuten
Darsteller: Robin Williams, Kathy Baker, Roberto Aguire, Eleonore Hendricks, Giles Matthey, Bob Odenkirk
Genre: Drama
Produktionsland: Vereinigte Staaten
FSK: ab 12 Jahre

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Nolan ist sechzig Jahre alt und Bankangestellter. Er lebt ein ereignisloses Leben mit seiner Frau, bis er eines Abends auf der Heimfahrt einem Stricher begegnet. Nolan gesteht sich ein, dass er sich in den Jungen verliebt hat und führt kurze Zeit ein Doppelleben, bis er sich dazu entschließt, seiner Frau alles zu beichten.

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Robin Williams in seiner letzten Rolle. Das war genau der Grund, warum ich mich an diesen Film lange Zeit nicht herangetraut habe. Ähnlich wie nach dem Tod von James Gandolfini hatte ich Angst davor, einem meiner Lieblingsschauspieler noch einmal im Film zu begegnen, obwohl ich wusste, dass er tot ist.
Ich bin von „Boulevard“ schlichtweg begeistert. Gewohnt präzise und glaubwürdig stellt Williams den Charakter des Sechzigjährigen dar und lässt den Zuschauer fast im Glauben, Williams hätte ein Geheimnis seines eigenen Lebens gespielt. Die Sehnsucht in seinen Blicken, wenn er von einem neuen Leben träumt, sind von solcher Emotion erfüllt, dass es fast schmerzt. Robin Williams hat mit der Geschichte um ein spätes Coming Out einen unglaublich guten letzten Film hinterlassen, der noch lange nachwirkt.

Robin Williams hat mit seiner Charakterdarstellung des Nolan ein letztes Mal gezeigt, welch unglaubliches Können in ihm steckt. Der Film ist sowohl in seiner Inszenierung als auch in schauspielerischer Hinsicht minimal gehalten und entwickelt dadurch eine extrem intensive, emotionale Wirkung, um nicht zu sagen „Wucht“. Verfolgt man die innere Zerrissenheit des Protagonisten, so durchlebt man seine Unentschlossenheit in Mimik und Verhalten des Schauspielers so eindringlich, dass es einem Gänsehaut verursacht. Aber auch Unsicherheit, Schüchternheit und Sehnsucht findet man in Williams‘ Gesichtsausdruck. Man leidet mit ihm und wünscht ihm von ganzem Herzen, dass er glücklich ist. Aber Nolan liebt auf tragische Weise beide: Seine Frau und den jungen Mann. Jeden auf eine andere Art und Weise. Gerade die unspektakuläre und sehr feinfühlige Inszenierung durch Regisseur Dito Montiel veranlasst mich, die Äußerung zu wagen, dass sich „Boulevard“ ohne weiteres in die Reihe thematisch ähnliche Klassiker wie „Tod in Venedig“ oder „Brille mit Goldrand“ einreihen kann. Es mag für den ein oder anderen unglaubwürdig erscheinen, wenn sich in der heutigen Zeit ein Sechzigjähriger nicht „einfach so“ outet. Doch man darf nicht vergessen, dass die Offenheit, wie wir sie heute kennen, zum einen noch gar nicht so lange existiert und zum anderen es heutzutage immer noch schwere Vorurteile gegenüber Homosexuellen gibt. Von daher erzählt „Boulevard“ aus meiner Sicht eine durchaus realistische Geschichte, die auch heute noch passieren könnte und mit Sicherheit passiert. Ich möchte nicht wissen, wie viele Männer (oder auch Frauen) sich ihre Liebe zum eigenen Geschlecht nicht eingestehen (egal, wie alt sie sind), weil sie sich gesellschaftlichen und sozialen Zwängen unterwerfen. Gerade unter diesem Aspekt erzählt „Boulevard“ von einem unglaublich mutigen Mann, der diese Grenze überschreitet, weil sein Herz es verlangt.

Kathy Baker als Ehefrau spielt grandios und spiegelt das Gefühl wider, das eine Frau empfinden muss, wenn sie von ihrem Mann erfährt, dass er Männer liebt. Und dennoch wird gezeigt, wie sehr sie ihren Mann liebt und ihn nicht weggehen lassen will, egal welche Lebensphase er gerade durchmacht. Dieses Spiel zwischen Williams und Baker verschlägt einem den Atem, so eindringlich und authentisch ist es. Gerade die Problematik des „Sich entscheiden müssens“ wird sowohl von Robin Williams als auch seiner Filmpartnerin Kathy Baker hervorragend gespielt. Als Stricher kann Roberto Aguire ebenfalls überzeugen. Die Szenen zum Beispiel, in denen er Nolan Sex anbietet, weil er keine Gefühle zeigen kann oder mag, und Nolan dagegen nur Liebe, Zärtlichkeit und Geborgenheit fordert, sind sehr stimmungsvoll und wirken wie aus dem Leben gegriffen.
Vielleicht lehne ich mich etwas weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass dieser Film vielleicht sogar einer der besten von Robin Williams ist und er sich mit dieser Rolle eindeutig ein ewiges Denkmal gesetzt hat, in dem er nämlich ein letztes Mal alles gegeben hat, was er wirklich gut konnte: Charakterschauspiel in einer fast schon beängstigenden Perfektion.

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Fazit: Robin Williams‘ filmisches Vermächtnis, wie es intensiver und emotionaler nicht sein könnte. Eine Meisterleistung aller Beteiligten.

© 2017 Wolfgang Brunner

Kleines Püppchen, Teddybär (2011)

Kleines Püppchen Teddybär - Cover

Originaltitel: Kleines Püppchen, Teddybär
Regie: Manuela Schuster
Drehbuch: Manuela Schuster
Kamera: Julia Richter, Georg Pircher Verdorfer
Musik: Martin Sachsenhofer
Laufzeit: 25 Minuten
Darsteller: Nikolai Will, Elias Mayer, Kerstin Hochwimmer, Petra Mayr, Ingrid Schuster, Marina Bytel, Jennifer Bytel
Genre: Drama, Kurzfilm
Produktionsland: Österreich
FSK: ab 14 Jahre

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Johannes ist ein Einzelgänger und arbeitet als Telefoninterviewer. Seine Wohnung verlässt er nur selten. Als eines Tages ein kleines Mädchen am anderen Ende der Telefonleitung spricht, gerät die bis dahin heile Welt von Johannes ins Wanken und er muss sich seiner Vergangenheit stellen …

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Manuela Schuster hat mit ihrem Kurzfilm „Kleines Püppchen, Teddybär“ ein unglaublich intensives Drama erschaffen, das thematisch entfernt an den bedrückenden „The Woodsman“ mit Kevin Bacon erinnert. Schuster schafft es allerdings in weitaus weniger Minuten, eine beängstigende Auseinandersetzung mit diesem Tabuthema auf die Beine zu stellen, die man nicht mehr so schnell vergisst.

Professionell und erschütternd wird eine Geschichte erzählt, die tragischer nicht sein könnte. Der Täter wird zum Opfer, das Opfer wird zum Täter. Auf grandiose Weise spielt Nikolai Will einen einsamen, verängstigten und schüchternen Mann, der mal erfolgreich und mal weniger erfolgreich gegen seine Vergangenheit ankämpft und daran fast zerbricht. Unglaublich authentisch und bewegend spielt er den Charakter des Johannes, der ganz genau weiß, was mit ihm nicht stimmt, aber dennoch immer wieder den deprimierenden Kampf gegen seine wirren Gedanken verliert. Nikolai Will ist in dieser Rolle ein begnadeter Schauspieler, der es ohne weiteres schafft, Abscheu, Mitleid und Sympathie zugleich im Zuschauer zu erwecken. Als er an seinem „Problem“ fast zerbricht, leidet man mit ihm, so grandios wird das dargestellt. Es ist eine arme, unscheinbare Seele, die wir unter der einfühlsamen Regie von Manuela Schuster auf ihrem Weg begleiten. Drastisch aber auch einfühlsam und ohne große Schnörkel wird die Tragödie eines innerlich zerrissenen Charakters erzählt, der sich seiner Vergangenheit mit aller Kraft stellen will. Nikolai Will spielt den „Verbrecher“ so intensiv, das einem an manchen Stellen wahre Schauer über den Rücken laufen.

Manuela Schuster gelingt ein kleines Wunder, in dem sie einen in der Öffentlichkeit normalerweise verhassten Kinderschänder sympathisch macht, weil sie seine Vergangenheit durchleuchtet und auf mutige Art und Weise die Gründe aufzeigt, warum so etwas überhaupt passiert. Auf faszinierende Weise rüttelt uns die Regisseurin auf und fordert uns unaufdringlich auf, bei solchen Dingen nicht die Augen zu verschließen, sondern sowohl den Tätern als auch den Opfern größte Beachtung zu schenken.

Das Ende des Films ist traurig, hoffnungsvoll, hoffnungslos, schockierend, melancholisch und und und … Beeindruckend, wie man es schaffen kann, innerhalb 25 Minuten solch emotionales Chaos beim Zuschauer zu verursachen. „Kleines Püppchen, Teddybär“ ist ein enorm wichtiger Beitrag zum Thema „Kindesmisshandlung“, der mit einem bravourösen Hauptdarsteller wie ein Schlag in den Magen wirkt. Nikolai Will, der auch Komiker ist, zeigt hier, welch enormes Potential in ihm steckt und dass er ein hervorragender Charakterschauspieler ist, der Rollen in größeren Produktionen verdient.
„Kleines Püppchen, Teddybär“ ist ein Kurzfilm, den jeder einmal sehen sollte.

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Fazit: Drastisch und dennoch einfühlsam meistert Regisseurin Manuela Schuster eine Gratwanderung zum Thema „Kindesmissbrauch“. Nikolai Wills beeindruckendes, mutiges Schauspiel verursacht Gänsehaut.

© 2015 Wolfgang Brunner

Red, White & Blue (2010)

red white blue

Originaltitel: Red, White & Blue
Regie: Simon Rumley
Drehbuch: Simon Rumley
Kamera: Milton Kam
Musik: Richard Chester
Laufzeit: 104 Minuten
Darsteller: Noah Taylor, Amanda Fuller, Marc Senter, Nick Ashy Holden, Patrick Crovo, Jon Michael Davis, Saxon Sharbino
Genre: Drama, Thriller
Produktionsland: Irland, Vereinigtes Königreich
FSK: ab 18 Jahre

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Ericas Leben besteht einzig und allein aus unzähligen One-Night-Stands. Dann lernt sie Nate kennen, der versucht, eine Beziehung zu ihr aufzubauen. Aber ein Sexualpartner aus Ericas Vergangenheit dringt in das Verhältnis der beiden ein und verändert beider Leben drastisch …

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Simon Rumley hat mich schon mit seinem „The Living And The Dead“ enorm beeindruckt. Was er aber hier abliefert, ist eindeutig eine erneute Steigerung, so unglaublich das auch klingt. Rumleys Protagonisten sind auch hier wieder verlorene Seelen, die mit ihrer Existenz nicht zurechtkommen. Die Einstiegssequenzen sind hart und direkt und lassen schon von Anfang an vermuten, was da auf einen zukommt. Doch die Erwartungen werden übertroffen, wenn sich die scheinbar unzusammenhängenden Geschichten miteinander verbinden und zu einem Drama entwickeln, mit dem man nicht rechnet.

Die radikale Inszenierung und die perfekten Schnitte machen „Red, White & Blue“ zu einem beeindruckenden und schockierenden Ausflug in menschliche Abgründe. Kaltblütige Handlungsweisen der Protagonisten wechseln sich mit emotionalen Hilfeschreien nach Liebe und Zuneigung ab, die man teilweise erst Tage später in vollem Umfang begreift. Man leidet mit, wird wütend und hat im nächsten Moment das Bedürfnis, zu heulen. Rumleys Existenzen sind hassenswert und mitleiderregend zu gleichen Teilen. Das Drama könnte intensiver und brutaler, aber auch melancholischer und gefühlvoller nicht sein.

Die Schauspieler sind allesamt überzeugend und ziehen den Zuschauer sofort in ihren Bann. Rumleys schonungsloser Blick in Randgebiete unserer Zivilisation sind in meinen Augen Kult und lassen amerikanische Vorbilder zum größten Teil verblassen. „Red, White & Blue“ zeigt, dass Simon Rumley ein Visionär in Sachen schonungsloser Thriller ist. Und auch wenn seine Filme einerseits wie brutale Schläge in den Magen sind und schockieren, so sind sie dennoch auf der anderen Seite dermaßen voller Emotionen, dass es schon fast unheimlich ist. Rumley schafft auch hier wieder eine beeindruckende Achterbahnfahrt der Gefühle.

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Fazit: Erneut beweist Simon Rumley, dass er einer der schonungslosesten Regisseure unserer Zeit ist. Schockierend brutal und unter die Haut gehend emotional sind seine Geschichten, die sich unerbittlich ins Gehirn brennen.

© 2015 Wolfgang Brunner

The Living And The Dead (2006)

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Originaltitel: The Living And The Dead
Regie: Simon Rumley
Drehbuch: Simon Rumley
Kamera: Milton Kam
Musik: Richard Chester
Laufzeit: 80 Minuten
Darsteller: Roger Lloyd-Pack, Leo Bill, Kate Fahy, Sarah Ball, Neil Conrich
Genre: Horror, Drama, Thriller
Produktionsland: Großbritannien
FSK: ab 16 Jahren (uncut)

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Als der ehemalige Lord Donald Brocklebank seine finanzielle Situation in den Griff bekommen muss, bleibt ihm nichts anders übrig, als seine kranke, bettlägerige Frau zusammen mit seinem schizophrenen Sohn James alleine zurückzulassen. Er stellt eine Krankenschwester für eine geraume Zeit ein, aber James möchte seinem Vater beweisen, dass er trotz seiner Krankheit in der Lage ist, sich um sich selbst und seine todkranke Mutter zu kümmern, und lässt die Krankenschwester verschwinden. Anfangs klappt die Pflege seiner Mutter noch ganz gut, bis James dann plötzlich zwischen Fantasie und Realität nicht mehr unterscheiden kann und die Situation immer mehr außer Kontrolle gerät.

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Vor sieben Jahren sah ich diesen Film das erste Mal und er hat mich damals umgehauen. Heute ist meine Begeisterung zwar nicht mehr so groß, aber dennoch halte ich „The Living And The Dead“ nach wie vor für einen unglaublich intensiven und schockierenden Film.
Die Idee und vor allem Leo Bills Darstellung des schizophrenen James ist oscarreif. Da fällt mir im Moment nur noch Leonardo diCaprio in „Gilbert Grape“ ein, der  mich in seiner Rolle als behinderter Arnie Grape auf gleiche Weise fasziniert hat wie hier Leo Bill. Die Verkörperung des Kranken ist dermaßen autenthisch, dass man sich desöfteren fragt, ob der Schauspieler womöglich selbst krank ist. 😉 Leo Bill gebührt meine volle Hochachtung vor dieser schauspielerischen Glanzleistung.

Aber auch die Inszenierung hat es in sich. Die beklemmende Atmosphäre wurde absolut gelungen in Szene gesetzt und man fiebert und leidet mit den Protagonisten. Gerade die Situationen, in denen gut Gemeintes zu Schlechtem/Bösem wird, sind schlicht genial. Alles andere als langweilig, geschweige denn langatmig, begleitet man den schizophrenen James bei seinen Bemühungen Gutes zu tun, um sich selbst und seine Mutter bestmöglich zu versorgen. Das ist herzerweichend und schockierend in gleichem Maße.

„The Living And The Dead“ ist ein Ausnahmefilm. Thriller, Drama und ein Touch Horrorfilm in einem, verpackt in die brisante Psychostudie eines jungen Mannes, der bedauerns- und verachtenswert in einem ist. Teilweise sind visionäre (Kamera-)Einstellungen zu entdecken, wenn der Kranke zum Beispiel den Bezug zur Realität verliert und in zeitrafferähnlichen Sprüngen versucht, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen, um seiner Mutter zur Seite stehen zu können. Der Film hinterlässt den Zuschauer verstört und ratlos, man weiß nicht, was man darüber denken soll. Simon Rumley ist ein befremdliches Drama gelungen, das sich weit abseits alltäglicher Filme befindet und mit Sicherheit polarisiert. Verstörend und faszinierend zu gleichen Teilen hämmern sich die Bilder (und die Handlung) ins Gehirn des Zuschauers. Am stärksten dafür verantwortlich ist aber mit Sicherheit das brillante Agieren Leo Bills.

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Fazit: Packend, verstörend, faszinierend und befremdlich. Ein Ausnahmefilm mit einem fantastischen Hauptdarsteller und einer unheimlich beunruhigenden Handlung.

© 2015 Wolfgang Brunner