Fenster Blau (2016)

fensterblau

Originaltitel: Fenster Blau
Regie: Sheri Hagen
Drehbuch: Zoe und Sheri Hagen
Kamera: Michael Tötter
Musik: Alexander Precht
Laufzeit: 82 Minuten
Darsteller: Emilio Sakraya, Kristin Alia Hunold, Dietrich Hollinderbäumer, Marko Dyrlich, Anne Zander, Hund Collie, Eyk Kauly
Genre: Drama, Literatur
Produktionsland: Deutschland
FSK: k.A.

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Mitten im eisigen Winter kommt Ljöscha auf der Insel Norderney an. Er ist auf der Suche nach der Wahrheit in seiner Vergangenheit. Ljöscha trifft seinen Großvater, der ihn aber abweist. Doch schließlich siegt die Neugier und er möchte wissen, was mit seiner Tochter ist. An einem anderen Ort verschanzen sich ein älterer Mann und ein junges Mädchen in einer Wohnung. Er ist der Vater des Mädchens, aber er liebt sie verbotenerweise. Beide Schicksale hängen zusammen und Ljöscha kämpft zusammen mit seinem Großvater gegen die Vergangenheit, die beide immer wieder einholt …

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Da sieht man sich einen Film an, geht mit keiner besonderen Erwartungshaltung heran und wird mit einer Wucht gepackt, die einen umhaut. Sheri Hagens zweiter Langfilm orientiert sich an dem prämierten Theaterstück „Muttermale Fenster Blau“ der Dramatikerin Sasha Marianna Salzmann. Sheri Hagen steht eigentlich vor der Kamera, beweist aber mit „Fenster Blau“ ein dermaßen  eindrucksvolles Gespür für Dramaturgie und künstlerische Inszenierung, dass es einem die Sprache verschlägt. Ich möchte den Film als Meisterwerk und Rückkehr des deutschen Autorenfilms bezeichnen, so sehr haben mich Geschichte, Bilder und Schauspielleistungen in den Bann gezogen. Der Film wirkt wie ein wahr gewordener Albtraum aus Ängsten und Depressionen, aber auch voller Sehnsüchte, Hoffnungen und Liebe. Es ist schlichtweg genial, wie Hagen diese Gratwanderung zusammen mit ihrer Crew meistert und einen hoffnungsvollen und zugleich verstörenden Film auf Zelluloid bannt.

„Fenster Blau“ ist ein Kammerspiel, das auf eine Weise inszeniert wurde, als hätte ein „deutscher Peter Greenaway“ die Hände im Spiel gehabt. Voller Botschaften (ob sinnvoll oder sinnfrei sei einfach mal dahingestellt), die sich durch den gesamten Film ziehen und permanent zum Nachdenken anregen, aber auch zu Wut, Hilflosigkeit und Trauer. Es ist grandios, wie die Schauspieler allesamt diese Woge an Emotionen durch die knapp eineinhalb Stunden transportieren und greifbar machen. Man möchte an einigen Stellen laut losschreien wie der Protagonist Ljöscha, an anderen würde man den hilflosen, zerrissenen Großvater am liebsten in den Arm nehmen oder sich von ihm in den Arm nehmen lassen. Das Gespann Emilio Sakraya (aktuell: „Heilstaetten“ und „4 Blocks“) und Dietrich Hollinderbäumer (zuletzt in „Angst – Der Feind in meinem Haus“ zu sehen) funktioniert hervorragend, ebenso wie das Agieren zwischen Kristin Alia Hunold („Dem Horizont so nah“) und Marko Dyrlich (unter anderem mit dabei in „Babylon Berlin“). Es ist alles so intensiv, so natürlich, so lebensecht. Trotz des überaus ernsten Themas spürt man die Begeisterung der Beteiligten in jeder Filmminute. Ich ziehe meinen Hut vor den Darstellern. Emilio Sakraya fährt so authentisch aus der Haut, dass man eine Gänsehaut bekommt. Dietrich Hollinderbäumer zeigt sich äußerlich roh und innerlich einfühlsam, das ist eine grandiose Leistung, die die beiden Schauspieler da abliefern. Kristin Alia Hunold spielt die kindlich wirkende und innerlich zerstörte Lena, im positiven Sinne, glänzend theatralisch, während Marko Dyrlich sichtlich unwohl seinen Charakter darstellt. Auch hier kann man nur sagen: imposant! Da können sich so manche „Stars“ eine Scheibe abschneiden.

Zu den schauspielerischen Glanzleistungen gesellen sich  aussagekräftige Bildkompositionen und ein grandioser Score, die den Film zu einem echten Erlebnis machen. Man möchte trotz der oftmals unangenehmen Situationen, die geschildert werden, den Schauplatz und die Charaktere nicht mehr verlassen, denn man fühlt sich wohl oder unwohl mit ihnen und kann ihre Emotionen in jeder Hinsicht nachvollziehen. Sheri Hagen hat aus meiner Sicht ein Meisterwerk erschaffen, das mich nachhaltig beeindruckt und noch lange beschäftigen wird. Sie hat Sasha Marianna Salzmanns Theaterstück eine Tiefe verliehen, die seinesgleichen sucht. Alles ist in schwarz-weiß gehalten, nur die Farbe Blau wird sichtbar. Wie in „Pleasantville“ spielt die Regisseurin dieses Stilmittel bis zum Ende konsequent aus, beeinflusst den Zuschauer bis hin zum Happy End, das letztendlich kein Happy End ist. Oder doch?
„Fenster Blau“ ist ein Film zum Nachdenken, aber auch zum Träumen, bei dem man sich auf sich selbst besinnen kann. „Fenster Blau“ ist ein Film für die große Leinwand, ein unvergessliches emotionales Erlebnis, schlichtweg ganz, ganz großes Kino. Wo sind all die Preise, die dieser Film, dessen Schauspieler und Crew, verdient hat?
Ich kann meine Begeisterung schwer zurückhalten, aber eigentlich will ich das auch gar nicht. 😉 Man muss diesen Film gesehen haben!

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Fazit: Ganz großes Kino aus Deutschland. Wunderbar inszeniert und mit beeindruckenden Schauspielerleistungen.

© 2018 Wolfgang Brunner

Interview mit Schauspielerin und Regisseurin Sheri Hagen

Sheri Hagen
© v. Hardy Brackmann

Sheri Hagen, geboren 1968 in Lagos (Nigeria), ist in Hamburg aufgewachsen und lebt heute in Berlin. Ihre Ausbildung zur Schauspielerin absolvierte sie in Hamburg und Wien. Danach spielte sie in zahlreichen Film- und TV-Produktionen wie zum Beispiel „Tatort“ mit. Außerdem agierte sie auch in Theaterproduktionen. Im Jahr 2007 inszenierte Sheri Hagen ihren ersten Film, den Kinderfilm „Stella und die Störche“.

Seitdem ist sie als Regisseurin und Schauspielerin tätig. Gerade hat sie ihren zweiten Langfilm „Fenster Blau“ abgedreht.
Film-Besprechungen hat dem interessanten Multitalent ein paar Fragen gestellt.

1. Zuerst einmal interessiert mich Dein neuer Film. Es handelt sich dabei um die Adaption eines Theaterstückes. Da Du selbst auch Theater spielst, war es bestimmt eine Herausforderung, das Stück in einen Film zu „verwandeln“ Möchtest Du uns ein wenig über Deine Arbeit an „Fenster Blau“ erzählen?

‚Muttermale Fenster Blau‘ von Sasha Marianna Salzmann wurde mir empfohlen. Ich las das Stück und ich wurde die Figuren nicht mehr los. Sie blieben an mir haften.

Ich mochte die schonungslose Brutalität der Geschichte und zugleich den Schmerz des Protagonisten Ljöschas, der auf einer sachten, aber beharrlichen Art und Weise versucht, das Geheimnis seiner Familie zu lüften.

Mit dem ‚Schreibtisch am Meer‘-Preis des Internationalen Filmfests Emden Norderney im Gepäck, habe ich ‚Muttermale Fenster Blau‘ mit auf die Insel Norderney genommen, um mich dort von der Nordsee, mit all seiner Schönheit und Rauheit inspirieren zu lassen. Die Reise hat sich gelohnt. Das Ergebnis ist nun ‚Fenster Blau‘ geworden, welches 2017 in den deutschen Kinos laufen wird.

2. Welche 5 Filme würdest Du auf eine einsame Insel mitnehmen und warum?

‚Sugar Cane Alley‘ von Euzhan Palcy

‚Sidewalk Stories‘ von Charles Lane

‚The Cyring Game‘ von Neil Jordan

‚Baal‘ von Uwe Janson

‚Biutiful‘ von Alejandro Inarritu

Diese Fünf inspirieren und überraschen mich immer wieder aufs Neue.

 

3. Stell Dir vor, Du dürftest Dir die Hauptrolle in einem Remake Deiner Wahl aussuchen. Welche Rolle wäre das und warum? Und wie sieht es da aus der Sicht der Regisseurin aus?

Ich mag keine Remakes. Ich habe sie selten gut gesehen. Ich bevorzuge Adaptionen oder Neuerzählungen. Ich finde es spannender und vielfältiger, unterschiedliche Perspektiven zu sehen und zu entdecken, als Altes neu aufzubrühen.

4. In Deinem Kopf geistern mit Sicherheit eine Vielzahl an Projekten herum. Welches davon wäre Dein größter Wunsch, es zu verwirklichen?

‚Equality Film‘, meine Produktionsfirma zu etablieren.

Ich möchte mutige Geschichten realisieren, die nicht ausschließlich nach marktrelevanten Kriterien ausgewählt werden, aber trotzdem eine gute Unterhaltung bieten.

Filme, die Menschen unterschiedlicher Herkunft, unabhängig ihrer sexuellen Orientierung und Behinderung in ihrer Normalität zeigen, um Klischees aufzubrechen, um ein miteinander reden, statt übereinander reden zu ermöglichen. Spannende und ungewöhnliche Filme, die neue Perspektiven bieten, ermöglichen.

5. Was fällt Dir spontan ein bei

– Spike Lee

Nicht weg zu denken aus dem internationalen, schwarzen Film. Ein mutiger und spannender Regisseur, der Rückgrat besitzt.

Ich freue mich auf ‚Chi-Raq‘, den ich noch nicht gesehen habe und nicht missen möchte.

– Jada Pinkett Smith

Eine starke Frau, könnte ein Vorbild sein, schade, dass sie Scientologin ist, oder war???

– Steven Spielberg

Großartig: ‚Duell‘ – sein einziger Film, der nicht verkitsch ist, wie ich finde.

– Roland Emmerich

Ich würde gerne eine führende Rolle in einem seiner Filme spielen. Eine Figur, die alle Widrigkeiten im Angesicht einer drohenden Katastrophe, aus Liebe überwindet, zum Beispiel….

6. Wie siehst Du die Zukunft des deutschen Films?
Ich bin ein Optimist, daher gut, wenn Sender und Förderanstalten die Kraft der Kreativen wirklich erkennen und sie kreieren lassen und die Kreativen nicht aus Angst beschneiden.

7. Verrätst Du uns Deinen größten beruflichen Wunsch / Traum als Schauspielerin?

Eine Zusammenarbeit mit Alexandre Inarritu.

8. Bei welcher großen Hollywood-Produktion hättest Du gerne die Regie übernommen und warum?

9. Wie wichtig ist Filmmusik für Dich? Hörst Du sie auch in Deiner Freizeit? Oder was hört Sheri Hagen privat?

Sehr wichtig. Gute Filmmusik arbeitet Hand in Hand mit der Erzählung des Films, unterstützt Handlung und Figuren des Films, weitet die Synapsen der Zuschauer.

Ich betrachte die Filmmusik, wie eine weitere Film-Figur, die sich am Ende des Schnitts den anderen Figuren nähert, gehört werden möchte, aber nicht dominieren will.

10. Welche Dinge müssten Deiner Meinung nach in der Filmbranche geändert werden?

Definitiv die Trennung von Sender und Förderanstalten.

Es muss möglich sein Filmförderung erhalten zu können, ohne einen Sender mit im Boot zu haben. Die Sender haben Einfluss auf das deutsche Kino, welches sich dadurch immer mehr und mehr dem deutschen Fernsehen angleicht. Dabei gibt es eine Menge gute und mutige Kreative in Deutschland, deren Filme ich gerne im Kino sehen möchte. Quentin Tarantino oder Steven Spielberg z. B. brauchen keine deutsche Filmförderung.

Filmförderungen, mit angstfreien Entscheidern, denen die Drehbücher anonym eingereicht werden. Entscheider, die Lust auf mutige Geschichten und Vielfalt im Kino haben. Die frei von finanziellen Interessen und Politik sind.

11. Was sind für Dich die fünf wichtigsten Dinge in Deinem Leben?

Meine Familie, meine Kreativität, meine Freundinnen, meine Tiere und die Umwelt.

Ich bedanke mich für die Zeit, die Du uns gewidmet hast und wünsche Dir alles Gute für die Zukunft und viel Erfolg.

© 2016 Wolfgang Brunner / Sheri Hagen