Carcinoma (2014)

Originaltitel: Carcinoma
Regie: Marian Dora (als A. Doran)
Drehbuch: Marian Dora (als A. Doran)
Kamera: Marian Dora (als A. Doran)
Musik: Marian Dora (als A. Doran)
Laufzeit: 87 Minuten
Darsteller: Ulli Lommel, Thomas Goersch, Carina Palmer, Daniela Friedel, Curd Berger, Lisbeth Piquart, Dorian Piquart
Genre: Drama
Produktionsland: Deutschland
FSK: keine Prüfung

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Obwohl Dorian eine Wucherung an seinem Körper entdeckt, sucht er keinen Arzt auf. Er hat Angst, eine schlimme Krankheit zu haben. Als der Tumor aber immer größer wird und Dorian die Schmerzen nicht mehr aushält, wird er ins Krankenhaus eingeliefert. Diagnose: Darmkrebs im letzten Stadium.

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Wer Marian Dora kennt, weiß genau, worauf er sich einlässt. Und mit „Carcinoma“ beweist Dora (der diesen Film unter dem Pseudonym A. Doran inszeniert) wieder einmal, dass er der Meister des Ekelfilms ist. Aber nicht nur des Ekels, sondern auch des hintergründigen Schockierens. Es ist immer wieder erstaunlich, wie Dora seine Themen anpackt und in einen faszinierenden Film verpackt, dem man sich schwer entziehen kann. Auch wenn es äußerst blutig zugeht und mit Kot und anderen Körperflüssigkeiten nicht gespart wird, erzählt „Carcinoma“ dennoch ein ergreifendes Schicksal, das gerade durch seine Ekelszenen unglaublich authentisch wird. Dora spricht eine eigene Sprache, die manchmal an Jörg Buttgereit erinnert. Vor allem, wenn die schockierenden, ekligen Szenen von melancholischen Bildern unterbrochen werden, die den Zuschauer über das eigene Leben (und Sterben) nachdenken lassen. Ich würde Marian Dora fast als Hybrid aus dem bereits erwähnten Jörg Buttgereit, dem provokativen Michael Haneke und dem innovativen Peter Greenaway bezeichnen. Dora überschreitet definitiv Grenzen und stößt den Großteil der Zuschauer damit ab. Es gibt wohl nur wenige Menschen, die sich auf seine filmischen Alpträume einlassen, in denen Kot, Urin, andere Körperflüssigkeiten und Blut eine große Rolle spielen.

Aber man muss auch hinter die Bilder sehen, die man zu sehen bekommt. Dora nimmt kein Blatt vor den Mund und beschreibt, wie auch schon in seinem (in meinen Augen immer noch sein Meisterwerk) „Cannibal“, welche Abscheulichkeiten das Leben für uns bereithält. Niemand will es wahrhaben, geschweige denn sehen, was mit einem passiert, wenn er Darmkrebs im Endstadium hat: Da muss man sich als Betroffener leider mit Durchfall und anderen unschönen Dingen auseinandersetzen. Und genau das tut Dora auch: Er setzt sich mit dem noch verbleibenden Leben eines Kranken auseinander und zeigt uns in allen Details, wie es abläuft. „Carcinoma“ hat mich trotz einer enormen Anhäufung von Ekelszenen nicht ganz so stark betroffen gemacht wie „Cannibal“, aber dennoch ist es harter Tobak, der da auf einen zukommt und man sollte wirklich wissen, auf was man sich da einlässt. Doras Beitrag zur Krebserkrankung dürfte für jeden eingefleischten Hardcore-Fan dennoch eine Herausforderung sein.
Es gibt sehr selten Filme, die mich so nachhaltig betroffen machen und beeindrucken: „Carcinoma“ gehört eindeutig dazu.

Aber wie bei all seinen Filmen setzt Dora die Ekel- und Schockeffekte nicht plump als reißerische Aufhänger ein, sondern fokussiert damit die Geschichte und das Schicksal aller Beteiligten, lässt den Zuschauer in einer dermaßen brutalen Intensität teilhaben, dass es wehtut. Man möchte sich einerseits übergeben, kann sich aber andererseits dieser morbiden Anziehungskraft, die einem unsichtbaren Beobachter obliegt, in keiner Sekunde entziehen. Dora macht uns zu abartigen Voyeuren, die sich am Elend anderer nicht satt sehen können. Man braucht schon einen starken Magen, um einer Darmspiegelung oder anderen Geschehnissen beizuwohnen. Aber diese Dinge stellen neben den schönen Ereignissen (die Dora übrigens auch wunderbar in die Geschichte einwebt) unser Leben dar.
Begleitet werden die verstörenden und nostalgisch, melancholisch verklärten Bilder von einer elegischen Klaviermusik, die dem Film immer wieder für kurze Zeit den Schrecken nimmt. Wahrscheinlich könnte man durch diese ruhigen Einschübe Marian Doras Filme gar nicht ertragen. Sie würden auf den Zuschauer einschlagen wie eine gigantische Welle aus Gewalt und Schrecken.
Marian Doras Filme liebt oder hasst man. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es etwas dazwischen gibt, denn entweder sieht man den Künstler, der hinter diesen abartigen Bildern steckt, oder man zweifelt am Verstand des Regisseurs. Dora scheut keine Tabus und provoziert mit seinen Arbeiten, dreht aber gleichzeitig künstlerische Filme, die realistische Schrecken in traumgleiche Bilder verwandeln. Man kann es schwer erklären, wenn man die Filme, oder in diesem Fall „Carcinoma“ nicht gesehen hat. Wahrscheinlich braucht man als Fan seiner Filme eine gewisse Aufgeschlossenheit und ein Auge für die „Schönheit“, die darin verborgen sind.

Vor den Schauspielern kann man nur den Hut ziehen. Wer sich bei solchen Szenen filmen lässt, verdient meinen höchsten Respekt. Allen voran natürlich Dorian Piquart, der mit dieser Rolle in die Vollen geht und sozusagen fast alles mit sich machen lässt, was dramaturgisch notwendig war. Aber auch Curd Berger und Thomas Goersch können sich sehen lassen. Beide haben eine „normale“ Rolle inne, die sie sehr gut meistern.
„Carcinoma“ wirkt enorm lange nach, verursacht auch nach Tagen noch ein extrem unangenehmes Gefühl, wie es übrigens „Cannibal“ sogar noch nach Jahren bei mir verursacht, wenn ich daran denke. Das ist es auch, was Doras Filme ausmachen: Provokant, schockierend und tabulos. Und zwischen den Bildern steckt das Leben, wie wir es alle kennen, mit all seinen Schönheiten und Grausamkeiten.

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Fazit: Ein typischer Marian Dora, der schockiert, aber dennoch nachdenklich macht und eine morbide Faszination ausstrahlt.

© 2017 Wolfgang Brunner

Boulevard (2016)

Originaltitel: Boulevard
Regie: Dito Montiel
Drehbuch: Douglas Soesbe
Kamera: Chung-hoon Chung
Musik: Jimmy Haun, David Wittman
Laufzeit: 88 Minuten
Darsteller: Robin Williams, Kathy Baker, Roberto Aguire, Eleonore Hendricks, Giles Matthey, Bob Odenkirk
Genre: Drama
Produktionsland: Vereinigte Staaten
FSK: ab 12 Jahre

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Nolan ist sechzig Jahre alt und Bankangestellter. Er lebt ein ereignisloses Leben mit seiner Frau, bis er eines Abends auf der Heimfahrt einem Stricher begegnet. Nolan gesteht sich ein, dass er sich in den Jungen verliebt hat und führt kurze Zeit ein Doppelleben, bis er sich dazu entschließt, seiner Frau alles zu beichten.

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Robin Williams in seiner letzten Rolle. Das war genau der Grund, warum ich mich an diesen Film lange Zeit nicht herangetraut habe. Ähnlich wie nach dem Tod von James Gandolfini hatte ich Angst davor, einem meiner Lieblingsschauspieler noch einmal im Film zu begegnen, obwohl ich wusste, dass er tot ist.
Ich bin von „Boulevard“ schlichtweg begeistert. Gewohnt präzise und glaubwürdig stellt Williams den Charakter des Sechzigjährigen dar und lässt den Zuschauer fast im Glauben, Williams hätte ein Geheimnis seines eigenen Lebens gespielt. Die Sehnsucht in seinen Blicken, wenn er von einem neuen Leben träumt, sind von solcher Emotion erfüllt, dass es fast schmerzt. Robin Williams hat mit der Geschichte um ein spätes Coming Out einen unglaublich guten letzten Film hinterlassen, der noch lange nachwirkt.

Robin Williams hat mit seiner Charakterdarstellung des Nolan ein letztes Mal gezeigt, welch unglaubliches Können in ihm steckt. Der Film ist sowohl in seiner Inszenierung als auch in schauspielerischer Hinsicht minimal gehalten und entwickelt dadurch eine extrem intensive, emotionale Wirkung, um nicht zu sagen „Wucht“. Verfolgt man die innere Zerrissenheit des Protagonisten, so durchlebt man seine Unentschlossenheit in Mimik und Verhalten des Schauspielers so eindringlich, dass es einem Gänsehaut verursacht. Aber auch Unsicherheit, Schüchternheit und Sehnsucht findet man in Williams‘ Gesichtsausdruck. Man leidet mit ihm und wünscht ihm von ganzem Herzen, dass er glücklich ist. Aber Nolan liebt auf tragische Weise beide: Seine Frau und den jungen Mann. Jeden auf eine andere Art und Weise. Gerade die unspektakuläre und sehr feinfühlige Inszenierung durch Regisseur Dito Montiel veranlasst mich, die Äußerung zu wagen, dass sich „Boulevard“ ohne weiteres in die Reihe thematisch ähnliche Klassiker wie „Tod in Venedig“ oder „Brille mit Goldrand“ einreihen kann. Es mag für den ein oder anderen unglaubwürdig erscheinen, wenn sich in der heutigen Zeit ein Sechzigjähriger nicht „einfach so“ outet. Doch man darf nicht vergessen, dass die Offenheit, wie wir sie heute kennen, zum einen noch gar nicht so lange existiert und zum anderen es heutzutage immer noch schwere Vorurteile gegenüber Homosexuellen gibt. Von daher erzählt „Boulevard“ aus meiner Sicht eine durchaus realistische Geschichte, die auch heute noch passieren könnte und mit Sicherheit passiert. Ich möchte nicht wissen, wie viele Männer (oder auch Frauen) sich ihre Liebe zum eigenen Geschlecht nicht eingestehen (egal, wie alt sie sind), weil sie sich gesellschaftlichen und sozialen Zwängen unterwerfen. Gerade unter diesem Aspekt erzählt „Boulevard“ von einem unglaublich mutigen Mann, der diese Grenze überschreitet, weil sein Herz es verlangt.

Kathy Baker als Ehefrau spielt grandios und spiegelt das Gefühl wider, das eine Frau empfinden muss, wenn sie von ihrem Mann erfährt, dass er Männer liebt. Und dennoch wird gezeigt, wie sehr sie ihren Mann liebt und ihn nicht weggehen lassen will, egal welche Lebensphase er gerade durchmacht. Dieses Spiel zwischen Williams und Baker verschlägt einem den Atem, so eindringlich und authentisch ist es. Gerade die Problematik des „Sich entscheiden müssens“ wird sowohl von Robin Williams als auch seiner Filmpartnerin Kathy Baker hervorragend gespielt. Als Stricher kann Roberto Aguire ebenfalls überzeugen. Die Szenen zum Beispiel, in denen er Nolan Sex anbietet, weil er keine Gefühle zeigen kann oder mag, und Nolan dagegen nur Liebe, Zärtlichkeit und Geborgenheit fordert, sind sehr stimmungsvoll und wirken wie aus dem Leben gegriffen.
Vielleicht lehne ich mich etwas weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass dieser Film vielleicht sogar einer der besten von Robin Williams ist und er sich mit dieser Rolle eindeutig ein ewiges Denkmal gesetzt hat, in dem er nämlich ein letztes Mal alles gegeben hat, was er wirklich gut konnte: Charakterschauspiel in einer fast schon beängstigenden Perfektion.

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Fazit: Robin Williams‘ filmisches Vermächtnis, wie es intensiver und emotionaler nicht sein könnte. Eine Meisterleistung aller Beteiligten.

© 2017 Wolfgang Brunner